Selbstmissverständisse des sozialen Web
13. August 2006 von Wolfgang SommergutEin paar Ansätze erfreuen sich besonderer Beliebtheit, wenn die Funktionsweise des Social Web erklärt werden soll. Dazu zählen biologische Modelle wie das Schwarmprinzip oder sozialpsychologische Theorien wie James Surowieckis „The Wisdom of Crowds“ (Untertitel „Why the Many Are Smarter Than the Few and How Collective Wisdom Shapes Business, Economies, Societies and Nations“). Einige Informationen und Debatten aus der letzten Zeit legen nahe, dass diese Erklärungsansätze nur bedingt auf das soziale Web angewandt werden können.
- Ähnlich wie Staaten bildenden Insekten oder Sportwetten stützen sich User-getriebenen Sites zwar häufig auch auf große Teilnehmerzahlen. Im Gegensatz zu jenen sind die Aktivitäten im sozialen Web häufig sehr ungleich verteilt, so dass letztlich kleine Gruppen überproporzionalen Einfluss gewinnen. So wurden mehr als 70 Prozent aller Wikipedia-Artikel von 1,8 Prozent der Benutzer geschrieben. Von 444809 registrierten Digg-Usern haben 133 (= 0,03 Prozent) zu 3456 Geschichten auf der Frontseite (= 57,47 Prozent) beigetragen (siehe: Digg user statistics & trends). Eine ähnliche Verteilung dürfte auch auf del.icio.us und andere Social-Software-Sites zutreffen, sonst gäbe es ja wenig Anreiz, die aktivsten Benutzer abzuwerben.
- Die genannten Erklärungsmodelle gehen davon aus, dass die unkoordinierten Tätigkeiten zahlreicher Einzelakteure zu insgesamt sinnvollen Gesamtergebnissen führen (was kein grundsätzlich neuer Gedanke ist, er wurde auch schon von Adam Smith in seiner Staatstheorie vorgebracht). Nur uninformierte Außenstehende glauben jedoch, dass etwa in der Wikipedia das freie Spiel der Kräfte herrscht. Nicholas Carr meint sogar, dass die freie Enzyklopädie die bürokratische Struktur von Redaktionen reproduziere.
- Bei stichprobenartiger Durchsicht der Autorenliste von Readers Edition scheint es dort keine extremen Ausreißer zu geben, die Beiträge wirken dort gleichmäßiger verteilt. Mir ist nicht klar, warum das so ist, aber es muss wohl mit den organisatorischen Rahmenbedingungen und den Formen der (ideellen) Gratifikation zu tun haben, die die Netzzeitung ihren Autoren bietet. Hugo Martins Kritikpunkte an der Readers Edition könnten möglicherweise erklären, warum relativ viele Schreiber jeweils relativ wenige Texte beigetragen haben (selbst unter den Top 5 hat keiner mehr als drei Beiträge verfasst).
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