Die Süddeutsche labert über den Long Tail

25. Juli 2006 von Wolfgang Sommergut

Unter dem albernen Titel „Keine Angst vorm langen Schwanz“ (kostenpflichtig auf sueddeutsche.de) lässt sich die Süddeutsche vom 24.7. auf Seite 11 über das Konzept des Long Tail aus. Anlass ist das kürzliche Erscheinen des gleichnamigen Buchs von Chris Anderson, der diesen Begriff geprägt hat. Das Buch hat der SZ-Autor wahrscheinlich nicht gelesen, verstanden aber ganz sicher nicht.

Wie im SZ-Feuilleton üblich, muss sich der Leser ziemlich lange gedulden, bis die Sprache auf das eigentliche Thema kommt. Auch der Long-Tail-Artikel verbraucht ein Drittel seiner Länge, um Allgemeinplätze und dümmliche Vorurteile über das Web auszubreiten. So bezeichnet der Autor das Magazin Wired herablassend als „Zentralorgan des hochfliegenden, modisch verpackten Technologie-Bullshits“, die Philosophien über das World Wide Web „flüchtiger als ihr Gegenstand, (…) die intellektuelle Halbwertszeit gering“. Der Zerfallsprozess von Web-Philosophien ist jedenfalls langsam genug, um der SZ die Chance zu geben, zwei Jahre nach dem Erscheinen des ursprünglichen Wired-Beitrags über das Thema schreiben zu dürfen.

In der Sache liegt der Beitrag daneben und rezipiert das Long-Tail-Konzept in wesentlichen Punkten falsch. So behauptet er, dass sich die „ungleiche Verteilung von Glück und Unglück, Geld und Ruhm ohne weiteres auf jedes Wirtschaftsgut übertragen lässt“. Treibende Kraft der Long-Tail-Ökonomie sind hingegen extrem niedrige Lager- und Distributionskosten, die das Internet als Vertriebskanal für digitale Güter bietet. Nicht zufällig erwähnt Anderson in seinem Wired-Artikel fast ausschließlich Beispiele aus der „emerging digital entertainment economy.“ Für sie galten bis vor kurzem die in der physikalischen Welt unvermeidlichen Beschränkungen:

The main problem, if that’s the word, is that we live in the physical world and, until recently, most of our entertainment media did, too. But that world puts two dramatic limitations on our entertainment.

Für alle, die Industriegüter produzieren, existieren weiterhin die Barrieren relativ hoher Lager- und Distributionskosten. Von wegen „auf jedes Wirtschaftsgut übertragen“. Solche Wirtschaftzweige können ihre Produkte außerdem nicht zum Nulltarif reproduzieren, wie das für digitale Musikstücke oder Videos funktioniert.

Die Vorreiter der Longtail-Ökonomie, beispielsweise Google, Amazon oder Ebay, zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie neben dem Geschäft mit den Hits noch etwas Geld aus ein paar „Ladenhütern“ machen. Das Neuartige besteht gerade darin, dass ein riesiges Sortiment mäßig nachgefragter Waren mehr Umsatz erwirtschaftet als die Bestseller – die im konventionellen Business typischerweise für 80 Prozent der Einnahmen verantwortlich sind:

What’s really amazing about the Long Tail is the sheer size of it. Combine enough nonhits on the Long Tail and you’ve got a market bigger than the hits.

Beim SZ-Autor hingegen „macht das Kleinvieh aus dem Long Tail erstaunlichen Mist, oftmals bis zu 40 Prozent der Gesamtumsätze“ (sollte das nicht „erstaunlich viel Mist“ heißen?).

Spannend wäre es für einen Feuilleton-Artikel gewesen, die kulturellen Auswirkungen eines derart ausdifferenzierten Warenangebots in der digitalen Unterhaltungsindustrie zu beleuchten. Sie eröffnet ungeahnte Möglichkeiten für individuelle Vorlieben und kann auch die Geschmäcker von Nieschen und Randgruppen bedienen. Für den SZ-Schreiber revidiert der Long Tail hingegen den amerikanischen Traum:

Nicht jeder Tellerwäscher muss mehr Millionär werden, um etwas wert zu sein. Am Ende reicht es, wenn er mit seinen Ideen ein paar andere Tellerwäscher erreichen, berühren und begeistern kann.

Was für ein Quatsch!

Kategorie: Medien und Web-Dienste 7 Kommentare »

7 Antworten zu “Die Süddeutsche labert über den Long Tail”

  1. Nico sagt:

    das klingt nach einem kurzen Studium des Klappentextes, mehr aber auch nicht.

  2. Danke für die einordnenden Worte zum SZ-Artikel, der mich extrem verwundert hat. Jetzt fühle ich mich besser informiert.

  3. Cordula sagt:

    Ich musste mich kürzlich über den Leitartikel des Spiegel zum Thema Web 2.0 ärgern, weil er ähnlich schlecht recherchiert war. Der Beitrag in der Süddeutschen ist ein weiteres Beispiel dafür, dass sich unsere Leitmedien sehr schwer tun mit dem, was im Web passiert. Danke für deine deutlichen Worte.

  4. Bernhard Rüger sagt:

    Vielen Dank für diese Kritik an dem besagtem Artikel der SZ. Darüberhinaus ist der Satz, beginnend mit „Die Kurve beginnt links oben an der X-Achse …“ sehr mißverständlich, weil nicht gesagt wird, was auf der X-Achse (und Y-Achse) überhaupt abgetragen wird. Bei üblichen Wahrscheinlichkeits- oder Häufigkeitsverteilungen jedenfalls ist alles gerade umgekehrt als dort beschrieben. Aber (wie auch sonst) können oder wollen Journalisten gar nicht mehr verstehen,was sie schreiben. Mein Eindruck: Journalisten wollen nicht mehr informieren, sondern nur noch schreiben (letzteres bringt ja auch Geld). Mein Vorschlag zum Gegensteuern: Kein reines Zeilengeld mehr für Schreiber oder Vielschreiber, sondern Geld für genaue und gründliche Recherchen.

  5. Thomas Cloer sagt:

    Du bringst die Sache wie gewohnt auf den Punkt. Ich lese das Buch gerade und hätte es nicht besser sagen können.
    Die Unterzeile des Titels lautet ja „Why the future of business is selling less of more“. Zumindest das hat der SV ja kapiert – sie verkaufen weniger (Auflage, Anzeigen) und gleichen das mit Büchern, CDs und DVDs aus ;-)
    P.S: Du könntest ruhig mal die Blockade von .info aufgeben…

  6. Volker Weber sagt:

    Du könntest mal das .info-Gesindel verlassen. :-)

  7. Terrapop sagt:

    Naja, die SZ (und alle für sie tätigen Redakteure) befindet sich ja selbst in den ersten 20 Prozent der Medienlandschaftskurve. Von daher sind die restlichen 80 Prozent natürlich der Feind und nur etwas für Tellerwäscher…