Wikipedia als Zielscheibe von Web-2.0-Gegnern
19. November 2006 von Wolfgang SommergutSpiegel, Sueddeutsche & Co konnten sich nie richtig mit dem Web 2.0 anfreunden. Als man hierzulande die amerikanische Aufbruchstimmung nach dem Ende der Dotcom-Ära bemerkte, wurde sie als Hype und Blase abgetan. Da sich das Phänomen nun doch länger hält als von den selbsternannten Experten vermutet, kommen sie dem Leserinteresse entgegen und tragen ihren Teil zur Debatte bei. Der ist zumeist aber nicht besonders originell und häufig negativ geprägt. Das zeigen zwei neuere Artikel der Sueddeutschen und von Spiegel Online.
Obwohl schon vor dem Web 2.0 entstanden, gilt die Wikipedia als Musterbeispiel für ein erfolgreiches Projekt des Social Web. Deshalb ist sie die bevorzugte Zielscheibe für die Gegner partizipatorischer Publikationsformen. Die Auseinandersetzung um die freie Enzyklopädie währt allerdings schon seit längerer Zeit und daher wurden praktisch alle denkbaren Argumente schon ausgetauscht. Wer also Ende 2006 die Debatte um die Verlässlichkeit der Wikipedia erneut aufnimmt, kann entweder die zahlreichen geäußerten Positionen darstellen oder neue Aspekte vorbringen, wenn er sich mit der Materie eingehend auseinandergesetzt hat.
Axel Rühle, der schon das Konzept des Long Tail nicht verstanden hat, versucht in seinem neuerlichen SZ-Beitrag mit dem Titel „Im Daunenfederngestöber“ erst gar nicht, originell zu sein. Offenbar glaubt er, dass er immer noch ein paar Leser findet, die das Wikipedia-Prinzip nicht kennen. Er beschreibt dieses gleich zu Beginn tendenziös als Einladung zum Vandalismus:
Es ist so herrlich einfach. Ein Klick auf den Button „Seite bearbeiten“ und man ist Herr über die Begriffe der Welt: Lässt bei Ronald Reagans Vereidigung schwule Bands aufspielen. Setzt erfundene Fische in entlegenen Seen aus.
Da nach Meinung des Autors der Vandalismus das größte Problem für die Wikipedia darstellt, will er diese These durch einen prakatischen Versuch belegen. Nachdem ein amerikanischer Professor bereits vor zwei Jahren aus ähnlichen Motiven einige Einträge fälschte, muss der SZ-Schreiber nun erneut zu diesem Mittel greifen. Obwohl die Resistenz der Wikipedia gegen böswillige Veränderungen relativ gut belegt ist und die Legitimität solcher Experimente schon ausgiebig diskutiert wurde, manipuliert Rühle als origineller Forschergeist 17 Einträge. Das Ergebnis fällt nicht überraschend aus, 12 Fälschung werden sofort korrigiert, fünf zu ziemlich abseitigen Begriffen bleiben bis zum Redaktionsschluss unentdeckt.
Neben dem Problem des Vandalismus klaubt der SZ-Artikel alles mögliche Negative zusammen, von den aufgebauschten Editorenkriegen über angeblich wuchernde Einträge zu exotischen Begriffen bis zum einem vermeintlich falsch zitierten Qualitätsvergleich zwischen Wikipedia und Britannica.
Der Spiegel trägt seinen Teil zur negativen Berichterstattung über die Wikipedia bei, indem er ein Interview mit Jaron Lanier (PDF) veröffentlicht. Der französische Wirrkopf hatte vor einiger Zeit unter dem Titel „Digital Maoism“ eine Polemik gegen das Social Web publiziert. Im Gespräch mit dem Spiegel wiederholt er den unsinnigen Vergleich zwischen Kooperationsmodellen im Web und totalitären Regimen. Beide gründeten nämlich auf Kollektivismus und deswegen sei die Wikipedia ideologisch verwandt mit dem Nazi-Regime über Pol Pot bis zu den Islamisten
. Es ist schon eine ausgesprochene Dummheit, die von totalitären Regimen unterdrückte Möglichkeit zur individuellen Entfaltung einem Medium nachzusagen, das jedem Einzelnen bisher ungeahnte Chancen zur Artikulation eröffnet (auch wenn diese gelegentlich missbraucht werden). Außerdem unterstellt er, dass alle Versuche, kollektive Intelligenz zu nutzen, automatisch zu irrationalen Ausbrüchen und Barbarei führen würden. Nach seinem Quatsch über den digitalen Maoismus musste den Spiegel-Redakteuren eigentlich klar sein, dass Lanier im Interview erneut mit seinen kruden und haltlosen Thesen aufwarten würde. Sie geben ihm aber ein Forum, wo er die Wikipedia als Treffpunkt des Mobs diffamieren kann, wo Lynchjustiz herrsche und Besessene den Kurs bestimmten.
Kategorie: Medien und Web-Dienste 7 Kommentare »
traurig, traurig, was da von den vermeindlich seriösen Medien (BILD mal ausgenommen) so an geistigem Müll kommt, wenn sie sich bedrängt fühlen. Auf den endgültigen Aufbruch in die Moderne darf man wohl bei fast allen noch lange warten, hm?
Danke für den Artikel, Wolfgang.
P.S.: Kannst Du bitte drüber nachdenken Deinen Feed auf Vollständig umzuschalten, anstatt der gekürzten Version? :) Danke!
Was dann heißt, dass sowohl BILD-Leser (durch entsprechende Artikel, stand im Bildblog) als auch SZ-Leser – diese mit dem Schutzschild wissenschaftlicher, nachahmender Neugier – mal eben das Projekt Wikipedia torpedieren.
Absolut Ihrer Meinung. Ich weis nicht wie die Süddeutsche den Artikel von Lanier überhaupt veröffentlichen konnte. Haben die den Artikel gegoogelt und dann ohne Recherche auf deutsch übersetzt? Ich für meinen Teil habe den Glauben an die Kompetenz der Süddeutschen in Sachen Digitale Medien nach diesem Artikel verloren.
Es ist typisch für Deutschland, dass hier mehr die Risiken als die Chancen von neuen Technologien betont werden. Die Wikipedia hat schon weitaus mehr Nachrede verkraftet und ist mittlerweile die erste Anlaufstelle für Wissenssuchende geworden. Und Wiki’s werden sich im Umfeld von Knowledgemanagement immer mehr durchsetzen. Wir werden in unserer neuen Collaboration Software (Mindquarry) jedenfalls ein Open Source Wiki mit integrieren.
„Obwohl die Resistenz der Wikipedia gegen böswillige Veränderungen relativ gut belegt ist “
Nein – ist sie nicht. Im Gegenteil zeigen alle diese Versuche, dass ca. 5% des Vandalismus in der Wikipedia dauerhaft *nicht* bemerkt werden.
Anzumerken ist auch: Die Nature-„Studie“ ist unbrauchbar – das geben sogar die Wikipedianer (entsprechende Recherche auf der Wikipedia-Mailingliste wird Ihnen da sicher weiter helfen) zu. Und die exotischen Themen in der Wikipedia wuchern nicht „angeblich“, sie wuchern *nachweislich*.
Aber was nicht sein darf, kann nicht sein. Bei solcher Kritik müssen alle Web-2.0-Protagonisten und Wikipedia-Sektenanhänhger wie der Pawlowsche Hund geifern und blind um sich schlagen. Und nicht merken, wie lächerlich sie sich machen, wenn sie den in New York geborenen und in den USA lebenden Lanier als „französischen Wirrkopf“ bezeichen.
Uli
Wikiweise – besser zu Wissen
Die Debatte um die Verlässlichkeit der Wikipedia wurde lange genug geführt, der ständige Hinweis auf einzelne misslungene Beiträge oder eigene Vandalismus-Tests bringen keine neuen Erkenntnisse. Ein vernünftiges Ergebnis der Diskussion besteht meines Erachtens darin, die Wikipedia anhand probalistischer Modelle zu bewerten (siehe dazu mein Posting: http://sommergut.de/wsommergut/archives/001168.shtml).
Der Vergleich mit einer redaktionell verfassten und gedruckten Enzyklopädie bringt nicht viel. Die Wikpedia ist ein Beispiel für die Long-Tail-Ökonomie. Ihre Kapazität ist nicht durch Buchdeckel begrenzt, sie kann virtuell unendlich viele Artikel enthalten, der Speicherplatz setzt faktisch keine Limits. Wo liegt unter solchen Bedingungen das Problem von „wuchernden exotischen Themen“? Wenn sich weltweit fünf Leute für einen solchen Beitrag interessieren, dann ist es auch gut. Eine Print-Ausgabe hingegen muss auf einen ausgewogenen Themenmix achten, damit die Mainstream-Beiträge (was immer das sein mag) nicht zu kurz kommen. Mir wäre nicht aufgefallen, dass in der Wikipedia durch „exotische“ Einträge andere Themen von allgemeinerem Interesse zu kurz kämen.
Wenn man jedoch die Berechtigung für ein Alternativprojekt wie Wikiweise davon ableitet, dass die Wikipedia gescheitert ist, dann kann man daran natürlich kein gutes Haar lassen. Und wenn der Ehrgeiz eines solches Vorhabens darin besteht, das traditionelle Konzept einer Enzyklopädie unter den Bedingungen des Web zu reproduzieren, dann hat man das revolutionäre Potential der Wikipedia nicht begriffen.
Da frage ich mich beim groben Durchlesen schon, ob man nicht komplett bescheuert war. Danke fur deine Berichte