Die Kartografie des Sozialen im Web 2.0

25. Juli 2007 von Wolfgang Sommergut

In The Tipping Point untersucht Malcolm Gladwell die epidemische Verbreitung bestimmter Phänomene, etwa von Modetrends oder politischen Ideen. Dabei referiert er auch ein psychologisches Experiment von Stanley Milgram (der durch das nach ihm benannte Experiment bekannt wurde). Der suchte nach einer Antwort auf das Small World Problem und wollte die Beziehungen der Menschen untereinander aufdecken. Dabei beschäftigte ihn die Frage, über wieviele Stationen (Freunde oder Bekannte) sich beliebige fremde Personen in Verbindung bringen lassen.

Das psychologische Experiment fand Ende der 60er Jahre statt. Angesichts heutiger Möglichkeiten muten die damals eingesetzten Mittel primitiv an. Milgram benutzte einen Kettenbrief, den er von 160 Personen aus Nebraska an einen Empfänger in Boston zustellen ließ. Die Probanten hatten dabei die Aufgabe, ihren Namen auf dem Brief zu notieren und ihn an jemanden aus dem Bekanntenkreis weiterzureichen, der das Schriftstück näher an den Adressaten bringen könnte. Die meisten Briefe gelangten nach nur fünf bis sechs Stationen nach Boston, obwohl keiner der Absender den Empfänger kannte.

Ein weiteres erstaunliches Ergebnis bestand darin, dass die Hälfte aller Briefe von nur drei Personen an den Empänger übergeben wurden. Beim letzten Glied in der Kette gab es eine außerordentliche Konzentration auf wenige Übermittler. Milgram leitete davon ab, dass nicht alle Stationen in der virtuellen Verbindung zwischen zwei sich nicht bekannten Personen gleich wichtig seien. Vielmehr postulierte er den Typ eines Konnektors, der sozial überaus aktiv ist und bei der Vernetzung eine herausragende Rolle spielt.

Verglichen mit dem Kettenbrief von Milgram ist es im Web 2.0 einfach, Beziehungsgeflechte sichtbar zu machen – sei es über die entsprechenden Funktionen in Social Networks wie Xing oder über die Vernetzung von Blogs über Blogrolls. Anders als Milgrams Experiment können Betreiber von Web-2.0-Diensten ganze Populationen kartografieren, um soziale Verknüpfungen sichtbar zu machen. Die Existenz des Konnektor-Typs scheint sich nach meiner Erfahrung dabei zu bestätigen. Die Xing-Funktion „Was wäre, wenn diese Person kein direkter Kontakt wäre“ zeigt, dass alternative Wege zu einem Kontakt immer wieder über eine Handvoll besonders aktiver Netzwerker führen würde.

Gladwell charakterisiert das Sozialverhalten dieser kontaktfreudigen Personen damit, dass sie Bekanntschaften kultivieren. Während die meisten Menschen einen überschaubaren Freundeskreis haben und Bekannte eher auf Distanz hielten, scheuten die Konnektoren nicht den Aufwand, Kontakte zu Personen zu pflegen, die sie unter Umständen über Monate und Jahre nicht treffen (Gladwell nennt als Beispiel einen Probanten, der eine Adressbuch mit tausenden Einträgen führte und jedem darin Verzeichneten zum Geburtstag eine Glückwunschkarte schickte, sofern er dessen Geburtsdatum kannte). Während die Mehrheit solche oberflächlichen Kontakte („weak tie“ im Soziologenjargon) eher frustrierten, seien die sehr aktiven Netzwerker mit solchen freundlichen Gelegenheitsbeziehungen glücklich.

Obwohl ich mein Sozialverhalten in dieser Hinsicht eher als konventionell betrachte, fällt mir auf, dass die regelmäßige Nutzung von Instant Messaging und Social Software mir dabei hilft, flüchtige Kontakte zu halten, die früher schnell verloren gegangen wären. In meiner Buddy-Liste und meinen Xing-Kontakten finden sich Einträge, die ich teilweise über Monate nicht kontaktiere und die ich dennoch beibehalte, weil etwa die Präsenzanzeige von IM eine Verbindung herstellt, ohne mich einen Aufwand zu kosten. Wenn meine Nutzung dieser Techniken repräsentativ ist, dann wird dank moderner Kommunikationsmittel zwar nicht aus jedem ein Konnektor, aber die Voraussetzung für epidemische Phänomene im Sozialen jedenfalls günstiger.

Kategorie: Medien und Web-Dienste Kommentare deaktiviert für Die Kartografie des Sozialen im Web 2.0

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