Die Wikipedia ist wahrscheinlich richtig

4. Januar 2006 von Wolfgang Sommergut

Wikipedia
Chris Anderson äußerte kürzlich einen interessanten Gedanken in Bezug auf die Wikipedia: Auch wenn einzelne Artikel fehlerhaft sein mögen, so sei sie als Ganzes mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig. Das ist eine ungewöhnliche Beurteilung einer Enzyklopädie, an die traditionell der Anspruch erhoben wird, dass jeder Eintrag korrekt sein muss. Entsprechend sieht sich auch Anderson mit dem Einwand konfrontiert, dass es einem Benutzer nicht helfe, wenn die gesamte Wikipedia mit großer Wahrscheinlichkeit stimme. Es reiche ja, wenn man als Informationssuchender ausgerechnet an einen der wenigen falschen Artikel gerate.

Dieses Argument orientiert sich allerdings an einem Nutzungsverhalten, wie es noch für die Printausgaben von Enzyklopädien üblich war. Man hat neben dem gebundenen Brockhaus oder der Britannica normalerweise keine zweite Quelle zu Hand, um eine Information zu überprüfen. Wenn man dort falsche Auskünfte erhält, ist man ihnen weitgehend ausgeliefert. Anders online. Da fällt es mit Hilfe von Suchmaschinen relativ leicht, weitere Quellen zu konsultieren und einen Artikel der Wikipedia zumindest in seinen Grundzügen zu verifizieren: It should be the first source of information, not the last.

Mir gefällt die Vorstellung, dass Suchmaschinen in Zukunft die Informationen zu einem Begriff automatisch aggregieren könnten und dabei für jede Quelle eine Wahrscheinlichkeit für ihre Korrektheit angeben. Ich denke dabei etwa an eine intelligentere und fortgeschrittene Version des define:-Operators von Google.

In einigen anderen Bereichen haben wir uns bereits an solche probabilistischen Modelle gewöhnt. Wenn ich etwa über eine bestimmte orthografische Regel im Unklaren bin, dann greife ich wie viele Andere nicht mehr zum Duden. Vielmehr tippe ich die in Frage kommenden Wortvarianten in Google ein und entscheide mich für jene, für die es mehr Treffer gibt.

Auch in vielen Wissenschaften hat das Postulat von Karl Popper keine große Bedeutung, wonach sie ein widersprechendes Faktum angeben sollen, das eine Theorie scheitern lässt. In komplexen Systemen können oft nur Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Trends angegeben werden. So wird beispielsweise die Prognose für den globalen Klimawandel nicht dadurch widerlegt, dass Hintertupfingen heuer einen besonders strengen Winter hatte. Ähnliches gilt auch für Sozialwissenschaften. Eine bestimmte vorhergesagte Tendenz im Sprachwandel wird etwa nicht gleich durch einige wenige gegenläufige Entwicklungen hinfällig.

Die Forderung nach einer fehlerfreien Wikipedia folgt wissenschaftstheoretisch gesprochen einer neopositivistischen Vorstellung: ein oder einige falsche Einträge falsifizieren die gesamte Enzyklopädie. Das probabilistische Modell scheint mir da nicht nur adäquater, sondern auch praxistauglicher.

Kategorie: Weblogs und Wikis 4 Kommentare »

4 Antworten zu “Die Wikipedia ist wahrscheinlich richtig”

  1. Sehr schöne Argumentation! Wobei ich mich nur frage, ob Google nach der neuen oder der alten Rechtschreibung schreibt. ;-) Egal. Ich glaube, sich nach der Anzahl der Treffer zu richten, wäre nicht ganz im Sinne des geschätzten Sir Karl Raimund. Wobei ich allerdings zugeben muss, dass ich es nicht viel anders mache.

  2. Ich glaube nicht, dass irgendjemand fordert, dass die Wikipedia fehlerfrei sein müsste. Selbst Popper hätte das nicht getan. Es macht wenig Sinn, eine Enzyklopädie als Ganze zu falsifizieren, schon weil es gar keine wissenschaftliche Theorie ist. Die These der Kritiker ist vielmehr, dass so viele Fehler vorkommen, dass es sich gar nicht lohnt, dort nachzuschlagen, weil die Wahrscheinlichkeit recht hoch ist, auf falsche Inhalte zu stoßen. Man behauptet also nicht, dass die Wikipedia falsifiziert wurde, sondern spricht ihr ihre Nützlichkeit ab. Damit wird gleichzeitig unterstellt, dass herkömmliche Enzyklopädien sehr viel zuverlässiger sind. Und das wiederum ist eine wissenschaftliche These, da sie sich falsifizieren ließe. Bisher hat sich allerdings noch niemand die Mühe gemacht, diese These mit wissenschaftlichen Methoden zu untermauern. Stattdessen hat man von einigen wenigen fehlerhaften Beiträgen auf die Qualität der gesamten Wikipedia geschlossen. Das nennt man in der Wissenschaftstheorie einen Induktionsschluss, ein Verfahren, das Popper nicht gerade schätzte.

  3. „Richtig“ und „Falsch“ sind hier schon merkwürdige Parameter. Auch wenn der Empirismus langsam an die Hundert wird, zucke ich bei diesen Wörtern zurück. Letztendlich, ist „richtig/falsch“ ein soziales Einverständnnis. Und diese Diskussion verschiebt dazu die Prämissen.

  4. @Michael: Der Bezug auf die Wissenschafttheorie ist natürlich nur als Analogie gemeint. Mir ist schon klar, dass die Wikipedia keine Theorie ist, die falsifiziert werden kann. Aber einige Kritiker verfahren genau nach diesem Muster: Wenn sie nur einen falschen Artikel finden, dann ist er für sie Beleg dafür, dass das kollaborative Modell der Wikipedia nicht funktioniert.
    @Harald: Du bist wohl Anhänger des konsenstheoretischen Wahrheitsbegriffs von Habermas :-) Eine Enzyklopädie muss m.E. aber auch der konsistenztheoretischen Vorstellung von Wahrheit genügen, also zumindest widerspruchsfrei sein.