Der Spiegel führt trostlose deutsche Debatte über Web 2.0 fort

8. Dezember 2005 von Wolfgang Sommergut

In einem Artikel mit dem Titel Ich wär so gern Pixelmillionär holt der Autor zu einem Rundumschlag gegen das Web 2.0 aus. Eigentlich geht es in dem Text um die uralte Geschichte der Million Dollar Homepage. Sie bietet dem Spiegel aber Gelegenheit, dieselben dumpfen Vorurteile zum Besten zu geben, die bereits in der hiesigen Blogosphere reichlich artikuliert wurden.

Der besagte Artikel haut in die gleiche Kerbe wie schon manch anderer: „Blase“, „Hype“, „Neusprech“. Wenn es zum Phänomen des Web 2.0 schon keinen einzigen programmatischen und Weg weisenden deuschen Beitrag gibt, dann haben wir immerhin jede Menge dieser Besserwisser. Während in den USA grundlegende Aufsätze wie jener von O“Reilly, zu AJAX oder Folksonomies den Boden für das Social Web bereiteten, gab es bei uns keine eigenständige Auseinandersetzung mit den neuen Entwicklungen im Web. Mit einiger Verspätung wurde schließlich hier die amerikanische Diskussion bruchstückhaft rezipiert. Um sich Vorurteile bilden zu können, reicht das aber offenbar.

Einer intellektuell anspruchsvolle Debatte fehlten bei uns allerdings die realen Grundlagen. Was jetzt von diversen Besserwissern als Blase abqualifiziert wird, ist das Resultat einer Gründerwelle, die es in sich hat. Die gab es freilich nicht bei uns, sondern in der USA. Hierzulande existieren es nicht einmal nennenswerte Pendants zu Bloglines, del.icio.us, Flickr oder Technorati (ok, wir haben OpenBC). Die Kreativität und der Ideenreichtum der amerikanischen Startups, die in kurzer Zeit eine Vielzahl von neuen Web-Diensten hochziehen, finde ich beeindruckend.

Sie bringen auch Bewegung in die etablierten Medien, die plötzlich im Namen des Social Web zu experimentieren beginnen. Man kann die LA Times für ihr fehlgeschlagenes Wikitorial belächeln. Was die Washington Post mit ihrem Remix-Projekt vorhat, sieht schon vielversprechender aus. Und was tut sich beim Spiegel, der Sueddeutschen, FAZ, etc.? Von deren Innovationsfreude kann sich ja jeder selbst ein Bild machen.

Und diejenigen, die jetzt vor einer neuen Blase warnen und sich schon wieder in einer Dotcom-Phase wähnen, sollten nicht vergessen, dass das Web 1.0 nicht nur Abzocke und Schwindel war.
Amazon, Ebay, Google oder Yahoo entstanden in dieser Zeit. Europäische oder deutsche Gegenstücke dazu gibt es indes nicht. Und bei der nächsten Welle von Web-Companys sieht es nicht besser aus. Aber dafür gibt es bei uns jede Menge Leute, die genau wissen, dass das alles nur eine Blase ist. Wir bräuchten stattdessen ein paar mehr von denen, die Ideen, Talent und den Willen zum Erfolg haben – und mehr solche, die ihr Geld als Venture Capital zur Verfügung stellen, anstatt es in Steueroasen zu deponieren.

Siehe auch: Web 2.0: Der Triumph der Amateure

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