Web 2.0: Der Triumph der Amateure
30. Oktober 2005 von Wolfgang SommergutNicholas Carr („IT doesn’t matter„) hat mit dem Web 2.0 einen neuen Gegenstand gefunden, um gängige Ansichten gegen den Strich zu bürsten. Der Hype um das Social Web scheint ihm weit genug gediehen, um erneut mit provokanten Thesen Aufsehen zu erregen. Einige seiner Argumente sind indes weder neu noch besonders stichhaltig.
Der Aufsatz The amorality of Web 2.0 gliedert sich in zwei Abschnitte. Im ersten versucht er den religiösen Eifer nachzuweisen, der sich hinter der Begeisterung für die neu entdeckte soziale Dimension des Web verbirgt. Zu diesem Zweck stützt er sich auf einen kürzlich bei Wired erschienen Beitrag „We are the Web“ von Kevin Kelly. Dort glaubt Carr Hinweise zu finden, dass sich eine direkte Verbindung zwischen dem Web 2.0 und der New-Age-Bewegung der 70er Jahre herstellen lässt. Besonders die Vision des Web als einer Mega-Maschine, die quasi göttliche Allwissenheit erlangt, scheint den metaphysischen Charakter des Web 2.0 zu bestätigen. Als weiterer Beleg für seine These dient Carr ein Zitat von Tim O’Reilly, wonach das heutige Internet ein Echo darauf ist, worüber wir in den 70er Jahren bei New Age diskutiert haben – außer dass wir nicht wussten, dass es über Technologie vermittelt sein würde.
Der Nachweis des religiösen Charakters, den der Hype um das Web 2.0 haben soll, scheint mir anhand dieser mageren Belege nicht gelungen. Das theoretische Rüstzeug des Social Web ist nach meiner Auffassung nicht vornehmlich die von New Age inspirierte Sehnsucht nach einem kollektiven Bewusstsein. Eine viel größere Rolle als solche obskuren Vostelllungen spielen neue sozialwissenschaftliche Werke wie The Wisdom of Crowds von James Surowiecki. Dieses gut recherchierte Buch vertritt die zentrale These, dass Kollektive unter bestimmten Bedingungen bessere Entscheidungen treffen können als ihre kompetentesten und intelligentesten Mitglieder. Es lässt sich aufgrund der vielen Beispiele aus der experimentellen Psychologie als Anleitung für die geschäftliche Nutzung des Web lesen. So haben es jedenfalls auch die Initiatoren des The Business Experiment verstanden, die Besucher ihrer Website in alle wesentlichen Entscheidungen ihrer Firma einbinden wollen.
Neben sozialwissenschaftlichen Ansätzen versuchen auch biologische Erklärungen die sozialen Effekte des Web 2.0 zu verstehen. Dabei werden häufig Vergleiche mit Staaten bildenden Insekten (Ameisen) und Vogelschwärmen gezogen (entsprechend entdecken Vertreter dieser Sichtweise das Schwarmprinzip als Gesetz des Web, siehe auch Was Social Software mit Ameisen (und Innovation) zu tun hat).
Abrechnung mit den Web-Amateuren
In der Argumentation von Nicholas Carr spielt die vermeintliche Entlarvung des Web 2.0 als metaphysischer Spuk eine wichtige Rolle, weil sie die Grundlage für den zweiten Teil seines Aufsatzes bildet. Dort behauptet er, dass dessen quasi religiöser Charakter uns an der objektiven Auseinandersetzung mit dem Phänomen hindere. Communities, Teilhabe und Kollektivismus erschienen per se als gut und dürften nicht mehr hinterfragt werden (Für eine solche Haltung reicht m.E. zumeist schon ganz gewöhnliche Begeisterung aus, warum muss man dafür gleich eine metaphysische Grundlage vermuten?). Unbeirrt von religiösen Verblendungen geht Carr nun ans Werk und deckt die Schwächen des Social Web auf, das nach seinem Verständnis vor allem durch die Tätigkeit von Amateuren geprägt ist. Was würde sich für eine solche Demystifizierung besser eignen als die Wikipedia? Anhand von zwei weniger gelungenen Biografien versucht er die mindere Qualität der freien Online-Enzyklopädie nachzuweisen – ein nicht gerade originelles Unterfangen.
Als wesentliche Kennzeichen des Social Web gelten neben Wikis auch Weblogs, weshalb Carr auch sie als Erscheinungsformen amateurhafter Betätigung abqualifiziert. Er wirft ihnen vor, extreme Positionen eher zu verstärken als zu hinterfragen und lieber zu kommentieren als zu recherchieren.
Die Kritik am Amateur-Web folgt einem Kernmotiv: Es verändere die wirtschaftlichen Bedingungen für kreative Arbeit und gefährde damit die professionellen Tätigkeiten in diesem Bereich. Er bringt die Krise der Zeitungen ebenso in Verbindung mit freien Online-Inhalten wie das Ende der Britannica. Wenn er wählen könnte, möchte er lieber auf Weblogs verzichten als auf die New York Times, lieber auf die Amateure als auf die Profis. Aber eigentlich will er sich nicht entscheiden müssen und beides bekommen.
Carr beschreibt das Verhältnis zwischen kommerziellen Medien und den Produkten unentgeltlicher Arbeit als unausweichliche Verdrängung der ersten durch die zweiten. In der Praxis funktioniert das so wohl nicht, denn die Industrie wird auf die Herausforderungen durch freie Inhalte reagieren. Wie das aussehen könnte, zeigt das Beispiel der Software-Branche. Auch sie steht in Konkurrenz zu freien Produkten aus der Open-Source-Gemeinde. Dort müssen Firmen versuchen, aus dem Geschäft mit Commodity-Software wegzukommen und durch innovative und benutzerfreundliche Anwendungen zu überleben. Zu ähnlichen Reaktionen werden auch die Medien gezwungen sein. Commodity-Inhalte, wie das Publizieren von bloßen Nachrichten oder Meinungen reichen nicht mehr aus, um sich von Amateur-Inhalten abzusetzen. Sie werden sich höherwertige Produkte einfallen lassen müssen. Dabei sollten sie etwa mehr auf die von Carr beschworene Fähigkeit zur Recheche setzen.
P.S. SpoN zitierte den Beitrag von N. Carr ausschließlich, um über die publikumswirksame Kritik an der Wikipedia zu berichten.
Siehe auch:
Die Süddeutsche entdeckt das Web 2.0
Spiegel führt trostlose deutsche Debatte über Web 2.0 fort
Selbstmissverständisse des sozialen Web
Wikipedia als Zielscheibe von Web-2.0-Gegnern
Kategorie: Medien und Web-Dienste, Weblogs und Wikis 5 Kommentare »
Ein anderes interessantes Beispiel für „The wisdom of crowds“ sind die Prediction Markets z.B. von Newsfutures (aber auch vielen Anderen)
http://www.newsfutures.com
Nebenbei bemerkt:
Als jemand der in den 70ern ziemlich viel ‚New Age‘ geschnuppert hat, darf ich anmerken, dass das Gefühl des Aufbruchs, des Dabeisein-dürfens schon ähnliche ‚Universal Community Sensation’im Hirn erzeugen kann. Für mich z.B. in Verbindung mit Reboot: ’24 hours on Socialtext‘
http://hemartin.blogspot.com/2005/06/24-hours-on-socialtext-european.html
So ganz unrecht hat der liebe Herr Carr wohl nicht, wenn man zumindest die deutsche Blogosphäre betrachtet. Auch beim law-blog wird darüber geschrieben:
„Einer der impliziten Glaubensgrundsätze der Blogosphäre ist nach wie vor, dass Blogger die Guten sind. Der David, der gegen den geld- und kommerzgetriebenen Goliath der Unternehmen und Medienkonglomerate mittels Guerillataktiken erfolgreich kämpft. Das Reich des Lichts, in dem Böses per definitionem gar nicht geschehen kann.“
Dieses gefühl bekommt man allerortens in den Blogs vermittelt. Eine Art religiöser Eifer kommt da schon rüber.
Ich mag nicht bestreiten, dass das Web einigen Esoterikern als Projektsfläche dient. Allerdings besteht m.E. darin nicht der wesentliche Antrieb für die aktuelle Begeisterung – schon gar nicht für jene des Venture-Kapitals. Carr versucht metaphysische Motive nur deshalb aufzudecken, um für sich einen privilegierten Erkenntnisstandpunkt reklamieren zu können – er wähnt sich im Gegensatz zu den meisten Anderen nämlich frei von religiösem Eifer. Aus dieser vermeintlich exklusiven Position geht er dann jedoch einem sehr gewöhnlichen Handwerk nach, nämlich der Kritik an den partizipatorischen Publikationsformen. Er klagt sie an, die ökonomischen Grundlagen der etablierten Medien zu gefährden und so zum Qualitätsverlust der Öffentlichkeit beizutragen.
Natürlich hat Carr weder einen privilegierten Standpunkt frei von „religiösem Eifer“ (seine Kritik ist absolut nicht frei davon) noch hat er Recht mit einem befürchteten Qualitätsverlust der Öffentlichkeit oder den gefährdeten Medien.
Aber auch Silkester zieht bei a2o den Vergleich der Blogs zur Religion sehr treffend. (http://a2o.blogg.de/eintrag.php?id=1058) Ich würde nicht gleich von Esoterikern sprechen – es ist eher das Gefühl, welches das Teil-einer-Gruppe-sein häufig auslöst und dann noch mehr, wenn man sich das Gefühl geben kann, dass man zu den „unterdrückten Guten“ gehört und feststellt, dass man auf eine gewisse Art und Weise Macht hat. Du hast natürlich Recht, dass es auch eine normale Begeisterung dabei gibt, welche für den Hype völlig ausreichend ist – aber es verhält sich IMHO dabei wie mit Mac-Jüngern ;-)
Das trifft gewiss nicht auf das von dir genannte „Venture-Kapital“ zu, aber dieses stellt auch nicht die dominierende Mehrheit der Blogosphäre.
Das Problem bei Carr sind deshalb aus meiner Sicht weniger die Beobachtungen als vielmehr seine auch in gewisse Kanäle gedrängten Schlussfolgerungen.
Ein Tool ist ein Tool ist ein Tool. Damit kann man sinnvolle Dinge tun – oder auch nicht. Die Benutzer werden das entscheiden, nicht Herr Carr. Welche Intention auch immer dahinter steht.
Nachdem die Profilierung mit „IT does not matter“ nicht so richtig geklappt hat (zu oft wurde es empirisch widerlegt), versucht Carr es nun halt nochmals. Der Versuch, dabei philosophisch und esoterisch und damit weniger angreifbar im Sinne von Fakten zu werden, der ist schon nett.
PING:
TITLE: Blogismus, oder die Religion des Blogs
BLOG NAME: hiegl.net – Martin Hiegl en Blog
Bei Forbes.com erschien ein Artikel, welcher Blogs ziemlich übel runtermacht und natürlich ein entsprechendes Echo hervorruft. Wolfgang Sommergut schreibt von einem weiteren Artikel, welcher Blogs stark als metaphysischer Spuk kritisiert. Natürlich …
PING:
TITLE: Web 2.0 – Kritik der Kritik
BLOG NAME: http://www.petersheim.de
Unter dem Titel „Web 2.0: Der Triumph der Amateure“ kritisiert Wolfgang Sommergut den Artikel „The amorality of Web 2.0″ von Nicholas Carr IT doesn’t matter“, der mit nicht so ganz neuen Thesen gegen die religiöse Verblendung und das Dilettantische zu Fe
PING:
TITLE: Der Triumph der Amoralität
BLOG NAME: live.hackr
Wolfgang Sommergut zu/gegen Nicholas Carr’s ‘The amorality of Web 2.0′
Mein Senf: Carr hat mit der Amoralität des Web 2.0 (auf eine von ihm nicht so gemeinte Weise) nicht so unrecht, weil sich die Geschäftsmodelle des Publizierens…