Windows Live: Alter Wein in neuen Schläuchen?

3. November 2005 von Wolfgang Sommergut

Microsoft hat in den letzten Tagen mit „Windows Live“ und „Office Live“ eine neue Online-Initiative gestartet. Sieht man sich die Ankündigungen an und liest die Reaktionen in diversen Medien, dann ist man danach fast genauso schlau wie vorher. Viele Phrasen und Absichtserklärungen („live era of software„, Web-2.0-Akronyme und „Kampf gegen Google“) – aber eine klare Strategie ist nicht erkennbar. Das Vorhaben sieht eher wie das Recycling von Microsoft-Ladenhütern aus.

Das Unternehmen befindet sich in einem Zwiespalt: Es will seine enormen Monopoleinkünfte aus dem Desktop-Geschäft nicht gefährden und gleichzeitig den Trend zu Online-Diensten nicht verpassen. Entsprechend laviert es zwischen den beiden Positionen herum. Tim O’Reilly fasste die von Bill Gates formulierten fünf Kernpunkte der neuen „Live“-Ambitionen zusammen. Er fühlt sich dabei an seine eigene Definition von Web 2.0 erinnert. Ich finde sie schwammig und meine, dass sie auch das bisherige Business von Microsoft gut beschreiben:

  • Software plus service
  • Server = Service
  • Support multiples pcs and devices
  • Multiple styles of client
  • Combination of client software, peer-to-peer, and internet services

Software plus Service: Eric Raymond hat bereits 1999 versucht, den Mythos von Software als einem konfektioniertem Produkt zu zerstören. Ihr Preis spiegelt nicht den Wert der CD, der Verpackung und des Programmieraufwands wider:

Anders gesagt, ist die Software-Industrie eine Dienstleistungsindustrie; allerdings eine, die unter der unbegründeten, aber sich hartnäckig haltenden Annahme operiert, eine Güterindustrie zu sein.

Microsoft belegt seit Jahren de facto die Richtigkeit dieser Überlegungen. Der Wert von Windows oder Office hängt maßgeblich von diversen Service-Leistungen ab, besonders den automatischen Updates. Ein Original-Windows XP würde in der freien Wildbahn des Internet nur wenige Stunden überleben. Die Vorstellung, mit der Lizenzgebühr bezahle man die in einen Karton eingepackte Software und erhalte anschließend die regelmäßigen Patches gratis, ist ziemlich naiv. Microsofts Geschäftsmodell beruht also bereits heute weitgehend auf Software plus Service.

Server = Service: Das ist tatsächlich Zukunftsmusik, weil Microsoft seinen Kunden die Option bieten will, Software entweder selbst zu installieren oder ihre Funktionen als Service zu beziehen. Die gleichen Produkte sollen sich sowohl für den Enterprise-Einsatz als auch für das Hosting eignen. Davon ist Microsoft noch weit entfernt, wie Bill Gates selbst zugegeben hat.

Combination of client software, peer-to-peer, and internet services: Die Verknüpfung von Desktop und Internet hat Microsoft seit 1995 versucht – sei es durch die Installation des Internet Explorer als Windows-Shell, sei es durch die Zwangsbeglückung der Benutzer mit dem Windows Messenger oder die gescheiterten .NET MyServices (siehe die CNet-Geschichte, wonach Windows Live diese „Hailstorm“-Services wieder aufwärmt). Bisher hat dieses Vorgehen den gewünschten Erfolg nicht gebracht. Neu im Angebot ist Peer-to-Peer, vermutlich eine Folge der Übernahme von Groove Networks.

Auch sonst bleibt sich Microsoft mit dem neuesten Marketing-Vorstoß treu. Man geht mit live.com an den Start, die aussieht wie das Web-Portal einer Startup-Company mit drei Mitarbeitern (dass die Demo abstürzte, ist bei Microsoft nicht ungewöhnlich). Was aus der Site schließlich werden soll, bleibt offen. Joe Wilcox von Jupiter Research fasste ein paar weitere solcher Absichterklärungen aus der letzten Zeit zusammen, die den Markt verunsichern sollen und kaum eine reelle Basis haben. Dazu zählt etwa eine Konkurrenzveranstaltung zu Google Print, von der außer einer Intention nichts vorhanden ist.

Bei Windows Live spielt RSS eine zentrale Rolle, damit möchte Microsoft sein Bekenntnis zu diesem Format bekräftigen. So dient es etwa auch der Entwicklung von Applets für Windows Live („Gadgets“). James Snell zeigt, dass diese Verwendung von RSS nicht viel mit dem Standard zu tun hat (zumindest auf semantischer Ebene).

Angesichts der nebulösen Ankündigungen kann sich jeder nach Belieben ausmalen, was Windows und Office Live wirklich sein werden. Der Microsoft-Monitor hat eine Liste zusammengestellt, was Windows Live nicht ist – man kann sich dem Thema vielleicht Erfolg versprechender über das Ausschlussverfahren nähern. Demnach strebt Microsoft entgegen einer gängigen Auffassung nicht ins Geschäft mit gehosteten Applikationen (ASP).

Kategorie: Firmenstrategien 4 Kommentare »

4 Antworten zu “Windows Live: Alter Wein in neuen Schläuchen?”

  1. Man darf sich wie so oft in der IT nicht zu schade sein, auch einfach mal selber Hand anzulegen und die Analysten links liegen zu lassen. Dann wird man schnell feststellen, dass Windows Live im Moment völlig überhyped ist. Und zwar wie so oft nicht von Microsoft selbst, denn für einen Hype brauchts immer ein Mediengetöse.
    Wenn man die heisse Luft mal rauslässt und das ganze als eines jener vielen Web-2.0-artigen Experimente betrachtet, dann kann man auch ganz interessante Ansätze erkennen – die Sache mit den Gadgets (http://microsoftgadgets.com/gallery/) zum Beispiel macht mich richtig neugierig.
    Und das ASP-Phänomen scheint mir ohnehin von Anfang an ein Medienphänomen gewesen zu sein, das keine funktionierende Entsprechung in der realen Welt hatte oder hat. Wenn es zukünftig immer mehr funktionierende Geschäftsmodelle mit Internetdiensten geben wird, dann werden diese weder ASP sein noch im geringsten etwas mit dem nach wie vor herumgeisternden ASP-Märchen zu tun haben.

  2. Ich glaube, dass der große Medienrummel durchaus von Microsoft beabsichtigt war. Ziemlich genau vor zehn Jahren gab man mit martialischen Sprüchen den Einstieg ins Web bekannt. Nun wollte man mit ähnlicher Wirkung einen Paradigmenwechsel ausrufen.
    Wenn ein Koloss wie Microsoft meint, eine wichtige Botschaft zu verkünden, dann ist die Aufmerksamkeit der Analysten schon gerechtfertigt – egal ob die Sache Substanz hat oder sich die Firma nur durch Marktentwicklungen dazu genötigt fühlt. Ray Ozzie misst dem Web als Plattform übrigens eine ganz andere Bedeutung zu als du.

  3. Ich kann mich gut daran erinnern, dass vor zehn Jahren die einschlägigen Experten fast unisono der Überzeugung waren, dass Microsoft trotz all dem Getöse als Nachzügler keinen Stich im Internet-Geschäft machen wird. Und dann schau Dir mal die geschäftliche Entwicklung der letzten zehn Jahre an: http://www.microsoft.com/presspass/insidefacts_ms.mspx#EULAC
    Ich messe dem Web seit meinen ersten intensiven Erfahrungen mit HTML vor 11 Jahren eine enorme Bedeutung zu, nur war ich bereits ernüchtert, als das Internet angefangen hat, den Massen den Kopf zu verdrehen. Ich wünsche mir seit 11 Jahren nichts sehnlicher als einen vollen Zugriff auf alle meine Daten und Anwendungen, und alles, was ich heute kriege, sind (im Vergleich zum Rich-Client) zum Teil amateurhaft wirkende Dienste wie writeley. Es wird ja sonst immer von der schnellebigen Branche gefaselt, aber beim Internet hat sich in den wesentlichen Dingen bis heute leider viel zu wenig getan. Da schlepp ich nach wie vor lieber meinen Laptop mit mir rum.
    Bei Ozzie gehe ich mal davon aus, dass er gerne Groove in die Office-Plattform integriert sehen möchte. Das ist auch eine Form von Internet-Strategie. Das Problem hierbei ist wohl, wie ich einem kompetenten MS-Mitarbeiter entlocken konnte, dass im Moment Sharepoint das strategische Collaboration- und Portalprodukt ist und Groove hier zu einem gewissen Kanibalisierungseffekt führen würde.

  4. Sqpis World sagt:

    Microsoft hat pralle Kriegskassen und kann es sich finanziell und personell wie kein anderer leisten, auf vielen Hochzeiten zu tanzen. Was sie davon später tun werden, hängt ganz von den Marktchancen ab.
    Momentan geht in den USA mit dem Web 2.0 Thema ziemlich die Post ab, insofern stellen sie (MS) schon mal ein Bein in die Tür. Auffällig ist, dass sie immer darauf achten, Alternativen zu Google anzubieten, das scheint wohl ein echter Angstgegner zu sein. („Viel Ehr“ für Google) ;-)
    Auf jeden Fall spannend zu verfolgen.