Die Süddeutsche entdeckt das Web 2.0

3. Februar 2006 von Wolfgang Sommergut

Vier Monate nachdem Nicholas Carr seinen Beitrag „The amorality of Web 2.0“ veröffentlichte, steigt die SZ in die Debatte über den metaphysischen Charakter des Web 2.0 ein. Wie man von kritischem deutschen Journalismus erwarten darf, findet der Autor kein gutes Haar an den neuesten Entwicklungen im Web. Was anderes lässt der kalauernde Titel „Ritter der Schwafelrunde“ auch nicht erwarten.

Die ersten journalistischen Ausfälle gegen partizipatorische Medien waren noch von Arroganz und Unwissenheit geprägt. Da wurden Blogger als Leute dargestellt, die im Pyjama von der Toilette aus ihr Kauderwelsch via Modem ins Netz pumpen. Mittlerweile geben sich die Kritiker aufgeklärter. So auch der SZ-Autor Alex Rühle, der das Internet ganz toll findet, natürlich die neuesten Google-Anwendungen kennt und auch weiß, was Flickr ist. Und Blogs, also Web-Tagebücher können in diesem großartigen Netz auch wunderbare Funktionen erfüllen, Sprachrohr der Freiheit, ungefilterte Wirklichkeit, mitgeschrieben in Echtzeit. Damit glaubt der Schreiber belegt zu haben, dass er weiß, wovon er spricht. Nun kann er sich seiner eigentlichen Aufgabe zuwenden, die er in der Dachzeile Hinterfragt: Web 2.0 ankündigt.

All diese Anwendungen des Web seien ja wunderbare Instrumente, um Konsumenten zu vernetzen. Aber was macht die Internetgemeinde? Sie redet vom Web 2.0 in Begriffen wie auf einem sozialpädagogischen Urchristenkonvent: Ehrlichkeit, Vertrauen, Authentizität. Als Beleg dient Rühle der bei Wired erschiene Beitrag „We are the Web“ von Kevin Kelly, der auch schon als Kronzeuge für die Thesen von Nick Carr herhalten musste. Während dieser die Wurzeln der Netzmystik im New Age sah, versucht es die SZ mit Ideologiekritik. Gemäß einer vulgärmarxistischen Basis-Überbau-Schematik wird der Börsenerfolg von Google als ökonomische Basis des ganzen Spuks entlarvt. Der Autor bleibt aber eine Erklärung schuldig, wie sich die Marktkapitalisierung der Suchmaschine in das (falsche) Bewusstsein der Web-2.0-Protagonisten übersetzt. Aber zum Glück finden sich noch andere Ursachen für das mystische Raunen, das sich rasant zu anschwellendem Blogsgesang steigerte. Wie die selbsternannten Hüter des deutschen Weblog-Reinheitsgebots entdeckt der SZ-Schreiber schließlich den Grund allen Übels in der Geschäftemacherei. Dank Wikipedia weiß er, dass Tim O’Reilly den Begriff „Web 2.0“ geprägt hat: Ein Verleger. Ein Eventmanager. Ein marktgerechter Begriff.

Fazit: Rühle setzt das Web 2.0 de facto mit neuen Publikationsformen gleich, und das sind für ihn primär Weblogs. Auch wenn der Begriff unscharf ist und als Etikett für alle möglichen neuen Trends dient, so hat er jedoch eine technische, ein soziale und wirtschaftliche Dimension. Ein Techie wird darunter wahrscheinlich vor allem Ajax, das programmierbare Web („Mashups“) und RSS verstehen. Für einen Verleger sind Weblogs möglicherweise nur „Third Party Content“. Selbst die kleine deutsche Blogosphere ist mittlerweile schon so heterogen, dass man ihr nicht pauschal selbstverklärende Metaphysik vorwerfen kann (auch wenn es mit der unreflektierten Abneigung gegen Kommerzialisierung und Professionalisierung einen weit verbreiteten Irrationalismus gibt). Als Diskussionsbeitrag zu den Thesen von Carr kommt der SZ-Text um Monate zu spät und bringt außer billiger Provokationen nichts in die Debatte ein. Von seiner Form her ist der Artikel nicht einmal Web 1.0. Obwohl er sich auf lauter Quellen im Web bezieht, enthält er keinen einzigen Link.

Update: Der SZ-Autor hat sich offensichtlich von der Konkurrenz inspirieren lassen. Zwei Wochen zuvor erschein in der NZZ ein Beitrag unter dem Titel „Zukunft 2.0“ – gleiches Thema, gleiche Quellen (soweit man die beim SZ-Artikel ersehen kann). Wie die meisten Texte des Schweizer Renommierblattes ist auch dieser gut recherchiert und ordentlich gearbeitet. Rühle hingegen bewegt sich auf dem Niveau des SZ-Feuilletons.

Kategorie: Medien und Web-Dienste 5 Kommentare »

5 Antworten zu “Die Süddeutsche entdeckt das Web 2.0”

  1. mxsmart sagt:

    Soderle, da hat einer mal wieder alles verkannt mit seinem Blick auf die Dinge. Was hätte er den besser machen können?
    Aber insgesamt ist es doch faszinierend, wie etwas, das von es bereits zuvor gab, als Neu eingestuft wird; Und alle springen auf. Ist es u.A. unter dieser Prämisse sinnvoll, die über solche – subjektiv gesehenden Entgleisungen – aufzuregen?

  2. helge sagt:

    es gibt scheinbar eine generation von menschen, die sich in den ersten ~fünf jahren des webs intensiv damit auseinandergesetzt und sich ein set an methoden und arbeitsweisen zurechtgelegt (google, email, IM, diskussionsforen) haben – und dann irgendwann beschlossen, so das war’s jetzt, ich bin expertennutzer, jetzt kann ich mich anderen themen zuwenden.
    sie sind heute beleidigt, dass es weitergeht, dass andere ihr expertennutzertum als „so summer of 2000“, als „web 1.0“ bezeichnen und von ein paar lächerlichen tagebüchern und irgendwelchen inhalte zusammenmixenden websites, hinter denen vermutlich die lästigen scriptkiddies von gestern stecken, behaupten, sie wären revolutionär und disruptiv.
    nur, die evolution hat gerade erst begonnen, jetzt werden sich die richtig spannenden dinge erst entwickeln, das netz differenziert sich aus, wie eine gesellschaft am anfang ihrer existenz.
    mal sehen, wie lange wir selbst es schaffen, cutting edge u bleiben und nicht selbst beleidigt zu sein..

  3. @helge: Glaubst du wirklich, dass der SZ-Autor ein „Expertennutzer“ ist? Man sollte sich von seinem Name Dropping („Google Base“, „Vlogs“) nicht täuschen lassen. Solchen Schreibern sollte man fünf Minuten über die Schulter schauen dürfen, wenn sie am PC sitzen. Das wäre vermutlich aufschlussreicher als ihre Texte.
    @mxsmart:
    >unter dieser Prämisse sinnvoll, die über solche – subjektiv gesehenden Entgleisungen – aufzuregen?
    Aufregen lohnt sich nicht, das ist schlecht für die Nerven :-) Aber wenn eine große deutsche Tageszeitung mit einem grottenschlechten Beitrag an der Diskussion um ein neues Medium teilnimmt, dann sollte man das kritisieren. Gerade darin besteht ja eine wesentliche Aufgabe von Weblogs, dass sie die Einbahnstraßenkommunikation von Verlagen und Firmen durchbrechen.

  4. helge sagt:

    @wolfgang: zumindest scheint er sich für einen solchen zu halten: wie meist bei groben fehleinschätzung dürfte auch hier verletzte eitelkeit die antriebsfeder sein.

  5. „Seriöse Kommentatoren“, zumal aus Deutschland, sind natürlich wachsam gegenüber jeden Hype oder jeder dot.com-Blase. Sieht erst mal seriöser aus und ist ja auch einfacher, als sich mit den neuen Dingen vertiefend zu beschäftigen.
    Derweil geht in Amerika die Post ab, fast täglich wird eine neue Idee in eine Firmengründung überführt und die Großen wie MS, SAP, IBM versuchen, den Anschluß nicht zu verlieren. (siehe auch Web 2.0: Under the Radar: http://www.scopeland.de/blog/?p=54 )
    Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis Web 2.0 hierzulande Mainstream wird. ;-)